Was ist eigentlich… Präklinische Thorakotomie??
In einer Reportage über London’s Air Ambulance aus dem Jahr 2009 wurde ich auf ein Procedere aufmerksam, welches ich so vorher – zumindest in der Rettungsmedizin – noch nicht gesehen, geschweige denn davon gehört hatte. Hierbei wird bei einigen Patienten – nach einem speziellen Algorithmus – noch vor Ort eine Eröffnung des Brustkorbes (Thorax) durchgeführt um Blutungen zu stoppen, das Herz zu entlasten und eine interne Herzdruckmassage durchführen zu können.
Leider gibt es über die präklinische Thorakotomie im deutschsprachigen Raum nur sehr wenig Informationen. Ich habe mir also einmal die Mühe gemacht und die wichtigsten Informationen in’s Deutsche übersetzt um euch einen kleinen Überblick über das Verfahren zu geben.
Begriffserklärung
„Thorakotomie“ ist der Überbegriff für jegliche Eröffnung des Thorax. Somit zählt auch das Legen einer Thoraxdrainage zu einer sogenannten „Minithorakotomie“. Befassen möchte ich mich im Folgenden mit der „bilateral anterior thoracotomy“ oder auch „clammshell thoracotomy“ welche eine komplette Eröffnung des Thorax bedeutet.
Das Verfahren wurde, soweit mir bekannt, in England in vereinfachter Form für die Notfallmedizin entwickelt um auch „Nicht-Chirurgen“ diesen Eingriff zu ermöglich und standardisierte Handlungsabläufe einzuführen.
Indikation / Kontraindikation
Als Indikation einer Clammshell Thorakotomie wird ein Herzkreislaufstillstand bei einer penetrierenden Thorax- bzw. Oberbauchverletzung angesehen.
Kontraindiziert ist sie bei stumpfen Bauchtraumen, Patienten die seit mehr als 10 Minuten keine kardiale Auswurfleistung besitzen und jedem Patienten der noch einen messbaren Puls hat. Ebenso abgeraten wird von dem Verfahren bei Patienten mit massiven Schädelverletzungen sowie bei nicht speziell dafür qualifiziertem Personal oder mangelnder Ausrüstung.
Eine Thorakotomie sollte nur durchgeführt werden, wenn der Patient nicht innerhalb von 10 Minuten nach Eintreten des Herz-Kreislauf-Stillstandes operativ versorgt werden kann.
Algorithmus
Durchführung
1.) Der Patient sollte, wenn noch nicht geschehen, in Rückenlage gebracht werden und Maßnahmen wie Intubation, IV-Zugang und Beatmung sollten von anderen Teammitgliedern übernommen werden.
2.) Eine grobe Desinfektion des Thorax sollte nach vollständigem Entkleiden des Patienten vorgenommen werden, jedoch ist darauf zu achten, dass kein Zeitverlust durch zu ausführliche Desinfektion entsteht.
3.) Wie bei einer Thoraxdrainage wird sowohl rechts als auch links im 5. Interkostalraum ein Schnitt gesetzt.
—> Sollte nach Schritt 3 ein Spontankreislauf einsetzten wird die Thorakotomie abgebrochen!
4.) Beide schon gesetzten Schnitte werden durch einen tiefen Schnitt verbunden:
5.) Mit zwei Fingern wird in den Interkostalraum gefasst und die Lunge geschützt, während mit einer speziellen Schere die Muskeln und jegliches Gewebe durchtrennt werden. Dies wird sowohl auf der rechten als auch auf der linken Thoraxseite durchgeführt bis nur noch das Brustbein (Sternum) ein Eröffnen des Thorax verhindert
6.) Das Sternum wird mit einer speziellen Schere oder einer „Gigli-Säge“ durchtrennt.
7.) Nun wird der Thorax entweder durch Thorax-Spreizer oder Helfer auseinandergehalten. Sollte die Öffnung nicht optimal sein, müssen die gesetzten Schnitte erweitert werden.
8.) Mit einem Schnitt wird das Pericard (=Herzbeutel) eröffnet.
9.) Kurze, systematische Untersuchung des Herzens auf Blutungen.
10.) Nun sind 3 Untersuchungsbefunde möglich:
a) Das Herz beginnt wieder einen Spontankreislauf mit voller kardialer Auswurfleistung.
–> Sichtbare Wunden sollten wie im Folgenden beschrieben verschlossen werden.
b) Das Herz beginnt langsam zu schlagen, aber mit stark verminderter Auswurfleisutng.
–> Wunden schnell verschließen und interne Herzdruckmassage durchführen.
c) Das Herz zeigt keine Aktion.
–> Gleiches Verfahren wie bei Punkt 10b. Ein leichtes „anschnipsen“ des Herzens kann teilweise genügen damit es wieder anfängt zu schlagen.
In den weiteren Punkten 11 bis 16 wird auf die weitere Therapie und Durchführung der internen Herzdruckmassage sowie die Blutstillung eingegangen, wobei vor allem eine vorübergehende Blutstillung durch Verschluss der Wunde mit den Fingern beschrieben wird.
Interessante Fakten
- Die erste erfolgreiche Thorakotomie wurde 1902 an einem 13-jährigen Jungen auf einem Küchentisch in Alabama durchgeführt.
- Aufzeichnungen haben gezeigt, dass es „Nicht-Chirurgen“ durch dieses Verfahren möglich ist, innerhalb von 2-3 Minuten Zugang zum Pericard zu erlangen und somit eine Entlastung und Blutstillung durchzuführen.
- 43% der vom Medic One London versorgten Patienten haben eine Thoraxverletzung, von denen die meisten eine Thoraxdrainage benötigen.
- Laut einer Studie wurden vom Medic One in den letzten 15 Jahren insgesamt 71 präklinische Thorakotomien durchgeführt. 13 Patienten konnten durch dieses Verfahren gerettet werden. Dies entspricht einer Erfolgsrate von 18%, was in meinen Augen sehr gut ist, wenn man bedenkt, dass diese Patienten ohne Thorakotomie wohl keine Überlebenschance gehabt hätten. Viel Interessanter finde ich aber die Tatsache, dass 11 von diesen 13 Patienten ein sehr gutes neurologisches Outcome hatten und nur bei 2 Patienten neurologische Defizite festzustellen waren.
Abschließend
Das Verfahren der präklinischen Thorakotomie wird nun seit 1994 von der Crew des Medic One durchgeführt und war für einige Patienten die letzte Rettung. Bei richtiger Durchführung und strenger Auswahl der Patienten bin ich, trotz meiner anfänglichen Skepsis, überzeugt von dem Verfahren.
Dieser Beitrag hat viel Zeit und Energie gekostet. Es würde mich freuen, wenn ihr mir durch Kommentare etwas Feedback geben würdet. Wäre dieses Verfahren eurer Meinung nach auch in Deutschland möglich / denkbar?
Die Quelle
Natürlich möchte ich euch auch zeigen, wie ich auf dieses höchstinvasive Verfahren aufmerksam geworden bin. Hier nun also die fünfteilige Reportage über HEMS London – Medic One, die leider nur in englischer Sprache verfügbar ist:
Gerade diesbezüglich in einem Fachforum gelesen:
Dass der ‚Medic One‘ in der Reportage nur zu Verkehrsunfällen und Messerstechereien alarmiert wird, ist keine Willkür des Fernsehsenders:
UK betreibt ein sehr hochwertiges Paramedic-System.
Das Einsatzmittel ‚Medic 1‘ wird nur zu den ‚absolut krassen‘ Einsätzen gerufen wo die Skills eines ALS-Paramedics nicht ausreichen – z.B. open heart massage, pädiatrische Traumata, etc..
Und ja – dieses Einsatzmittel ist ein traumaspezialisiertes Einsatzmittel.
Deswegen ein solches Verfahren.
…es ist auch im UK das einzig arztbesetzte Einsatzmittel mit einem Facharzt für Notfallmedizin – abgesehen von zwei NAW für Intensivverlegungen in Schottland.
Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass die dort tätigen Ärzte nach einem gewissen Einsatzzeitraum (glaube es waren 18 Monate) unwiederruflich von dem Heli abgezogen werden da sie den Hang zur klinischen Medizin verlieren…
[Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors]
[…] Ausweis ist zweisprachig, also in Deutsch und Englisch gehalten und beinhaltet alle relevanten Daten über den Inhaber und seine Qualifikation. Ausserdem […]
[…] zu diesem Rettungsmittel und eine Reportage darüber findet ihr in unserem Post “Was ist eigentlich…Präklinischen Thorakotomie??” und den Kommentaren […]
[…] Kenntnisse (insbesondere im Bereich der Traumaversorgung bzw. medizinischer Verfahren wie z.B. der präklinischen Thorakotomie) erwerben als in Europa in mehreren Jahren, sofern dies hier überhaupt möglich […]
[…] wird Blut über einen intraossären Zugang (Humeruskopf) appliziert, im Traumazentrum wird eine Thorakotomie durchgeführt und am offenen Herzen […]
Erst mal Danke für den Bericht 🙂
Ich selber bin Rettungssanitäter und Medizinstudentin, und bin das erste mal auf dieses Thema gestoßen als ich im vergangenen Jahr einen Notarzt-Kurs besucht habe, in der wir theoretisch dieses Thorakotomie gelernt haben und auch sie auch praktisch an einem Schweine-Thorax (schon tot) vorgeführt wurde. Da haben wir gesehen, es geht tatsächlich, auch wenn man so etwas noch nie gemacht hat und keine Chirurg ist, in unter 2 Minuten, wenn man die Theorie kennt und weiß wie es gehen sollte.
Mir sind zwei Fälle bekannt in denen so eine Thorakotomie erfolgreich durch geführt wurde, beides bei Stichverletzungen. Der eine Fall stammt aus Hessen, der andere ist sehr aktuell (Anfang Oktober 2013) in Graz passiert. Bei letzterem wurde ein erst 18 jähriger junger Mann mit multiplen Stichverletzungen aufgefunden, während der Reanimation wurden die HITS und „H“s abgeklärt und der anwesenden Notarzt entschied sich für die Herzbeueltamponade und führte im Treppenhaus eine Notfallmäßige Thorakotomie durch. Zwei Wochen später wurde der Patient ohne Defizite gesund aus dem Krankenhaus entlassen!
PS: Die Durchtrennung des Sternums soll angeblich auch mit einer ausreichend stabilen Kleiderschere funktionieren 😉
Danke für die Schilderung des sehr interessanten Falles!
Mich würde interessieren warum beim Fall in Graz, nachdem wie geschildert die Herzbeuteltamponade der ausschlaggebende Grund war, nicht ein weniger invasiver Eingriff wie eine Perikard-Punktion gewählt wurde? Mir sind natürlich die genauen Gegebenheiten bei diesem Fall nicht bekannt!
Mich würde auch interessieren welche Indikationen beim Notarzt-Kurs für eine Thorakotomie gelehrt wurden?
Grundsätzlich finde ich die Technik sehr interessant (als ultima ratio). Mich befremdet es aber etwas, wenn im Notarzt-Kurs dies gelehrt wird und dann eventuell Ärzte ohne Erfahrung auf dem Gebiet der Chirurgie glauben dies auf Grund der Theorie und einmaliger Vorführung bei einem Schwein zu beherrschen.
Das ist meine persönliche Meinung!
Durchtrennung des Sternums mit Kleiderschere? Interessanter Ansatz. Sind die Informationen aus 1. Hand? Von Seite der Schneidkraft hab ich weniger Bedenken aber z.B. mit einer Robin Rettungsschere einen guten Zugang zu bekommen stell ich mir schwierig vor (Aufgrund der langen Schneidarme müsste ich ja sehr weit auf spreizen um die gute Schneidwirkung nahe dem Drehgelenk nutzen zu können, außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass man nicht abrutscht.)
Ich wäre über gesicherte Informationen zu diesem Thema sehr dankbar!
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