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Home Einsatzberichte Ein prägendes Erlebnis…

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„Nicht schon wieder…“ hörte ich meinen Kollegen fluchen, als ich gerade in den RTW einstieg, „…das ist jetzt das dritte Mal in dieser Woche!“ fuhr er fort. Als ich ihn fragte, was denn ansteht, nannte er mir einen Vornamen und ich wusste sofort um was es geht. Rosemarie ist eine „Stammkundin“ unserer Wache, die Adresse muss von der Leitstelle schon gar nicht mehr durchgegeben werden, es reicht der kurze Hinweis „Es geht zur Rosi – Rest dürfte bekannt sein“.

Um euch kurz aufzuklären: Rosemarie, oder Rosi, wie sie sich uns immer wieder auf’s Neue vorstellt, ist eine total verwarloste Alkoholikerin, die in einer der schlimmsten Wohnungen haust, die ich kenne. Ich wage zu bezweifeln, dass das Wort „Aufräumen“ in ihrem Wortschatz überhaupt noch vorhanden ist. Es gibt nicht viele Wohnungen, die wir generell in voller Montur – also auch im Hochsommer mit Jacke – betreten, aber Rosi’s Behausung gehörte schon immer dazu. Überall liegen Essensreste, leere Schnapsflaschen und Müll herum, ein süßlich-saurer Geruch, der einem fast den Atem raubt, liegt in der Luft und das Szenario, das sich uns bietet, ist immer das Gleiche: Eine Nachbarin, die ebenfalls noch nie nüchtern angetroffen wurde, öffnet die Türe. Dann betreten wir die Wohnung und suchen, wo Rosi denn dieses Mal wieder herumliegt. Sie freut sich immer wieder auf’s Neue uns zu sehen, da wir offensichtlich die einzige Abwechslung in ihrem Leben darstellen. Meistens liegt sie irgendwo auf dem Boden und möchte eigentlich nur, dass wir ihr wieder auf die Beine helfen und uns ein klein wenig mit ihr unterhalten. Einen Transport in’s Krankenhaus lehnt sie generell ab, Kostenübernahmeerklärungen hat sie ohnehin schon unzählige herumliegen, so dass wir in der Regel schon gar keine mehr ausstellen, da bei dieser Dame offensichtlich rein gar nichts zu holen ist. Das Geld, das sie – woher auch immer – zur Verfügung hat, reicht offenbar nur für drei bis sieben Flaschen billigsten Schnaps pro Tag und ab und zu eine kleine Mahlzeit. Kleidungsstücke besitzt Rosi kaum und da auch Warmwasser und Strom schon lange abgestellt wurden, erspare ich euch eine detaillierte Beschreibung ihres Erscheinungsbildes. In aller Regel dauert ein Einsatz bei Rosi etwa zehn Minuten: Wir helfen ihr auf die Couch, tauschen ein paar wenige Worte aus und machen uns danach schnellstmöglich wieder vom Acker.

Doch dieses Mal sollte es anders kommen: Als wir in den Innenhof des etwas zurückversetzten Hauses einbogen, erwartete uns bereits eine junge, gepflegte Dame, die mit tränenunterlaufenen Augen im Kofferraum eines dort parkenden Fahrzeuges kramte. Wir hatten hier noch nie ein Auto gesehen und auch die junge Dame, die uns nun durch hektisches Winken signalisierte, dass sie Hilfe benötigte, war uns fremd.

Als wir ausstiegen, begann sie sofort mit weinerlicher Stimme loszustammeln, dass ihre Mutter die Kellertreppe hinabgestürzt sei. Eigentlich hatten wir uns auf einen „ganz normalen 0-8-15 Rosi-Einsatz“ vorbereitet, der keinerlei Material erfordert, aber aufgrund der Schilderung beschlossen wir, nun doch das komplette Repartoire an Notfallequipment mitzunehmen. Vollgepackt mit Notfallrucksack, EKG, Absaugpumpe und Beatmungseinheit folgten wir der jungen Dame, die uns schnellen Schrittes in den Gang des Hauses führte. Ein umgeworfenes Regal im Hausflur ermöglichte nur einen etwa 50 Zentimeter breiten Zugang zur Kellertreppe. Aufgrund der fehlenden Beleuchtung, hatte die Tochter bereits eine Taschenlampe in der Hand und leuchtete damit die Trappenabgang aus. Das Bild, das sich uns im Taschenlampenlich bot, hatte etwas Schauderhaftes: Am unteren Ende der Treppe sahen wir Rosi in Bauchlage auf dem Boden liegen, die Beine noch auf den Stufen. Ein erster Blick genügte uns, um zu wissen, dass hier höchste Eile geboten war, denn um ihren Kopf hatte sich bereits eine beachtliche Blutlache gebildet. Während wir schnellen Schrittes die Treppe hinabstiegen, bat mein Kollege die Tochter, das Telefon zur Hand zu nehmen und über die Leitstelle einen Notarzt nachzufordern.

Unten angekommen, war mir relativ schnell klar, was hier vorlag. Rosi’s Hautkolorit, sowie das bereits geronnene Blut auf dem Steinboden liessen nichts Gutes erahnen, die erste Untersuchung der Patientin bestätigte meinen Verdacht. Beim Versuch Rosi’s Halswirbelsäule mit der Hand zu stabilisieren, fiel mir sofort eine deutliche Stufenbildung auf, ihre Haut war eiskalt. Ich versuchte, einen Carotispuls zu tasten, während mein Kollege, der mittlerweile den Rucksack auf dem Boden ausgebreitet hatte, am Handgelenk sein Glück versuchte und auch relativ schnell die beginnende Leichenstarre feststellte.

Ich blickte vorsichtig die Treppe hinauf: Wenige Meter über uns stand die Tochter, die gerade mit der Leitstelle telefonierte und mit der anderen Hand die Taschenlampe hielt. Als mein Kollege mich fragend anschaute, beschloss ich, wenigstens einmal das EKG anzuschließen und eine Nulllinie auszudrucken. Während dieser Zeit beendete die Tochter auch das Gespräch mit der Leitstelle und ich hatte einige Sekunden Zeit, mir zu überlegen, wie ich der ohnehin schon völlig aufgelösten, jungen Dame nun den Tod der Mutter beibringen sollte. Da wir, nachdem das EKG geschrieben war, keine weiteren Maßnahmen mehr einleiteten, um den Leichnam möglichst wie vorgefunden zu belassen, falls die Kripo noch nachrückt, war der Tochter wohl ohnehin schnon klar, was los ist. Dennoch stand ich auf, bat sie mit mir nach oben zu gehen. Sie brach bereits auf dem Weg in Tränen aus, fragte mich dann jedoch schon von alleine: „Sie ist schon tot, oder?“

Das Warten auf den Notarzt, der eine relativ lange Anfahrtszeit hatte, verbrachten wir damit, die Tochter zu betreuen. Was diese uns während der Wartezeit zeigte und erzählte, machte mich wirklich sehr betroffen…

Generell erfahren wir im Rettungsdienst nicht allzu viel über das Leben unserer Patienten. Ein Einsatz dauert im Durchschnitt 30 – 90 Minuten, das ist also die Zeitspanne des Lebens, die wir mitbekommen. Hinzu kommt, dass die Patienten sich in einer Ausnahmesituation befinden und so kann man realitiv wenig Rückschlüsse auf das „normale“ Leben der Menschen ziehen. Das ist auch gut so, denn würde man die ganzen Schicksale, die man täglich erlebt, in vollem Ausmaß kennen, würde man wohl relativ schnell daran kaputt gehen.

Über Rosi habe ich mir ohnehin nie wirklich Gedanken gemacht. An ihr gab es nichts, was einen darauf hätte schließen lassen, dass sie einmal ein annähernd normales Leben geführt hatte. Sie war absolut ungepflegt, rund um die Uhr betrunken und lebte in einem unbeschreiblichen Chaos. In ihrer Wohnung gab es nichts, aber auch wirklich gar nichts, persönliches, wie z.B. Bilder an der Wand – Es gab ohnehin kaum Inventar. Lediglich ein altes Holzbett, ein kleiner, zugemüllter Tisch und ein nicht mehr in vollem Maße funktionstüchtiger Stuhl war, abgesehen von ihrer „Couch“, auf der sie offensichtlich 80 Prozent ihres Tages verbrachte, das einzige Mobiliar, an das ich mich erinnern kann.

Jeder, der im Rettungsdienst tätig ist, kennt solche Patienten und weiss, dass man eine gewisse Distanz und Abneigung ihnen gegenüber entwickelt. Verständlicherweise, denn besonders unterhaltsam und kooperativ sind die meisten dieser Menschen ohnehin nicht und wenn man dutzende Male wegen der gleichen Nichtigkeit anrückt, aber immer sämtliche Versuche zu helfen im Keim erstickt werden, hat man bereits nach kurzer Zeit keine Lust mehr.

Doch zurück zum Einsatz: Wir bekamen von der Tochter unter Tränen einige alte Bilder gezeigt, sie erzählte uns die Geschichte ihrer Mutter…

Rosi war die Frau eines gut betuchten Mannes, der mit Immobilien viel Geld gemacht hatte. Die kleine Bildersammlung zeigte eine wirklich attraktive Frau, die überglücklich aussah, ein Haus von dem so mancher nur träumen konnte und zwei Kinder – ein Mädchen und einen Jungen. Die Tochter erzählte, dass der Junge gestorben sei, weil er an Multipler Sklerose litt und dass es von da an abwärts gegangen sei. Ihre Mutter hätte den Verlust nie wirklich verkraftet und deshalb angefangen zu trinken, habe an schrecklichen Depressionen gelitten. Am Anfang noch erträglich, sei sie dann irgendwann nur noch aggressiv und launisch gewesen. Mann und Tochter haben ihr immer beigestanden, sie unterstützt und versucht, ihr Halt zu geben. Sie habe im späteren Verlauf mehrfach versucht einen Entzug zu machen, doch mit der Zeit gab sie sich selbst auf. Ihr Mann trennte sich von ihr und bekam das Sorgerecht für die Tochter. Dieses „Urteil“, so berichtete die Tochter, sei für Rosi ein wahnsinniger Schicksalsschlag gewesen und ab diesem Tag habe sie sich komplett dem Alkohol hingegeben…. Und so nahm alles seinen Lauf: Sie verlor ihren Job, ihre Wohnung und langsam aber sicher alle Freunde und Menschen die ihr nahe standen. Es vergingen etwas mehr als zehn, für Rosi wohl grauenhafte, Jahre, bis sie aus nicht geklärter Ursache die Kellertreppe hinabstürzte und sich dabei tödliche Verletzungen zuzog.

Während ich mich noch mit der völlig aufgelösten Tochter unterhalten hatte, war mein Kollege mit dem inzwischen eingetroffenen Notarzt zur Patientin gegangen um die letzten noch notwendigen Maßnahmen durchzuführen. Die Polizei wurde ebenfalls verständigt.

Das war das erste Mal, dass ich einen bebilderten Einblick in das Leben eines solchen Menschen erhalten hatte. Ich war vollkommen geschockt, denn das, was mit Rosi innerhalb von zehn Jahren passiert war, konnte ich kaum fassen. Sie hatte sich von einer glücklichen und zufriedenen, attraktiven jungen Frau zu einem Menschen entwickelt, mit dem offensichtlich niemand auf Gottes Erdboden mehr gerne zu tun hatte. Das wusste sie auch und lebte deshalb zurückgezogen und allein vor sich hin, trank jeden Tag einfach nur, um nicht über irgend etwas nachdenken zu müssen und versuchte, alle Probleme und Sorgen im Alkohol zu ertränken. Hatte sie anfangs noch Hilfe von Außen zugelassen, so erschien ihr wohl auch das nach einiger Zeit sinnlos und so gab sie vollstens auf….

Dieses Erlebnis war das erste, das mir wirklich einmal gezeigt hat, was Alkohol aus Menschen macht. Seit diesem Einsatz begegne ich Alkoholikern, Obdachlosen und anderen „von der Gesellschaft ausgegrenzten Menschen“ ganz anders…

Insbesondere bin ich seit dem immer wieder geschockt, wenn ich sehe, wie viele junge Menschen täglich Unmengen an Alkohol trinken und sich der Folgen keineswegs bewusst sind! Bei Rosi war der Grund, dass sie mit der Situation nicht mehr zurecht gekommen war, mit schlimmen Depressionen zu kämpfen hatte und offensichtlich keinen Ausweg mehr sah… Aber wenn junge Menschen ihr Leben ruinieren, einfach weil sie Spaß haben wollen und die Risiken nicht kennen, macht mich so etwas sehr traurig und ich muss immer wieder an Rosi zurück denken!

Als mein Kollege und ich wieder zurück auf die Wache fuhren, war es erst eine Weile relativ ruhig, bevor wir versuchten uns auszutauschen und das erlebte zu verarbeiten. Dennoch war dies einer der Einsätze, die mir im Gedächtnis hängen geblieben sind und mich ein Stück weit geprägt haben…

Ruhe in Frieden, Rosi!


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Autor
Gründer, Administrator, Hausmeister und ‚Motor‘ des Blogs. Beiträge von ihm sind in allen Kategorien zu finden. Beruflich ist er als Notfallsanitäter, sowie als Dozent und Einsatzleiter bei einer großen Hilfsorganisation in Süddeutschland tätig. Dank diverser Zusatzqualifikationen und stetigen Fort- und Weiterbildungen, sowie unzähligen Kontakten im In- und Ausland, ist er immer up-to-date und wird von Bekannten und Kollegen häufig als Ansprechpartner für alle möglichen Themen rund um den Rettungsdienst konsultiert. Er ist auf diversen Internetplattformen, sowie Messen und anderen Veranstaltungen zu den Themen Rettungsdienst und Notfallmedizin präsent und dauernd auf der Suche nach neuen und interessanten Themen für den Blog.