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Home Ausland Wie machen’s denn die Anderen? – Heute: Russland (Teil 2)

Moscow EMS Sprinters - Quelle: api.ning.com
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Kommen wir zu Teil 2 der „Wie machen’s denn die Anderen?“-Serie über Russland. Den ersten Teil gibt’s hier…

Heute habe ich etwas besonderes und vor allem schockierendes für euch entdeckt. In Russland werden Rettungsdienst-Einsätze von einem Kamerateam aufgenommen und in einer Art Dokumentation wöchentlich im Fernsehen ausgestrahlt um Geld damit zu verdienen. Dies jedoch nicht in der Form, wie wir es kennen, sondern deutlich „krasser“…

In Deutschland berichtete Spiegel TV über diesen „Einblick in’s wahre Leben“, den die Russen eingeführt haben. Bei Spiegel TV habe ich auch folgenden Text darüber gefunden, der euch ein Wenig auf die Reportage vorbereiten soll:

Notruf Moskau

 

Wer in der russischen Hauptstadt die 937 9911 wählt, braucht dringend Hilfe. Ob Suizidversuch oder Tierrettung, Arbeits- oder Verkehrsunfall – die Retter sind innerhalb kürzester Zeit vor Ort.

 

Doch Ärzte und Sanitäter kommen nie allein. In Moskau haben sie ein Kamerateam dabei, das alle Rettungsaktionen filmt. Die Fernsehsendung „Rettungsdienst“ gehört zu den erfolgreichsten im russischen Programm und schockiert die Zuschauer jede Woche mit hyperrealistischen Bildern aus der Millionen-Metropole an der Moskva.


 

„Blutrünstige Zuschauer“

Jeden Sonntag um 14.35 Uhr sitzen bis zu zwei Millionen Russen vor den Bildschirmen und warten auf ihre wöchentliche Dosis Grusel-TV. Dann berichtet der einst Kreml-kritische Fernsehsender NTW über das „wahre Leben“: Unfälle, Verbrechen, Blut und Verderben in einer der gewaltträchtigsten Hauptstädte der Welt.

Unter dem Banner der Fledermaus ziehen die Teams des Moskauer Rettungsdienstes MSS (Moskowskaja Sluschba Spasenija) rund um die Uhr aus, um Unfallopfer zu bergen, Verletzten zu helfen oder gewaltsame Auseinandersetzungen zu schlichten. Mindestens zehntausend Notrufe treffen täglich im Informationszentrum der Organisation ein, die im Februar 1996 auf Anordnung des Moskauer Bürgermeisters Jurij Luschkow gegründet wurde.
Als von der Stadt versprochene Finanzspritzen ausblieben, griff man beim Rettungsdienst zu außergewöhnlichen Maßnahmen: Zu jedem Einsatz gesellte sich neben Rettungsarzt und Helfern jetzt auch ein Fernsehteam, bestehend aus einer Reporterin und einem hartgesottenen Kameramann. Draufhalten heißt seitdem das Motto, denn die Moskauer erwiesen sich als dankbares Publikum mit großer Affinität zu grausamen Bildern: „Unsere Zuschauer sind sehr blutrünstig“, muss selbst Einsatzleiterin Tatjana Schukowa zugeben. Besonders schwere Unfälle mit viel Blut seien beliebt, denn: „Wenn ein Opfer sagt, es habe dem Tod ins Auge gesehen, ist das Publikum fasziniert.“

 

Krasser Realismus und befremdliche Offenheit

Mehrere Dutzend Fahrten zu Unglücksorten unternehmen die telegenen Retter pro Schicht: Einstürzende Gebäude, rutschende Erdmassen und große Feuer sind ebenso dabei wie Geiselnahmen und Terrorakte. Doch solche Katastrophen gehören eher zu den Ausnahmen im Samariter-Alltag. Die kleinen Geschichten um Armut, Drogenabhängigkeit, Arbeits- oder Orientierungslosigkeit stellen den größten Teil des Filmmaterials – und sorgen für steigende Einschaltquoten.
Ob der Suizidversuch auf der Brücke über der Moskwa, die unglücklich gestürzte Rentnerin, ein unter einem Kran begrabener Bauarbeiter oder die Frau, die von ihrem eigenen Rottweiler zerfleischt wurde – die Bilder des MSS erschrecken ob ihres krassen Realismus, die Kommentare der Betroffenen ob ihrer Unverblümtheit und fast vertrauensseligen Offenheit. Nur wenige scheinen ein Problem mit den Kameras zu haben, fast alle Opfer erzählen freimütig von sich und dem Geschehenen.
Woher diese ungewöhnliche Auskunftsfreude rührt, kann auch die Leiterin der für die TV-Produktionen zuständigen Agentur des Rettungsdienstes nicht abschließend beantworten: „Wir sind uns völlig bewusst, dass unser Programm für jedes halbwegs normal entwickelte westliche Land vollkommener Unsinn ist. Wenn Sie in einer Notfallsituation in den USA oder Deutschland mit einer Kamera am Unglücksort auftauchten, würde man ihnen die Tür vor der Nase zuschlagen,“ meint PR-Frau und Programmgestalterin Ekaterina Budrina. In Russland sorgten offenbar die besondere gesellschaftliche Situation und die sehr eigenwillige russische Mentalität dafür, dass die Teams fast unbegrenzt drehen könnten.

Weil Reporter und Kameraleute die Uniform der Rettungsleute trügen, würden die Menschen ihre Anwesenheit als selbstverständlich hinnehmen und sie nicht mit Paparazzi gleichsetzen, meint die 31-Jährige lakonisch. Bekanntheitsgrad und Beliebtheit der Sendung in Moskau sorgten zudem für Vertrauen auch unter den Betroffenen. Die Bilder von verkohlten Gliedmaßen, leidenden Psychopathen oder halbtoten Unfallopfern scheinen gar nach ethisch vertretbaren Maßstäben ausgesucht: „Wir verfahren sehr behutsam mit unserem Bildmaterial. Wir zeigen niemals das Antlitz von Selbstmördern und bedecken selbstverständlich immer die Gesichter von Opfern oder Protagonisten, wenn die Menschen uns darum bitten.“

 

Satte Quote mit nacktem Wahnsinn

Manchmal bitten die Hauptdarsteller der Reality-Show allerdings im Gegenteil darum, möglichst unverhüllt auftreten zu dürfen: Zu der eher skurrilen Art quotenträchtiger Protagonisten gehörte eine offenbar geistesgestörte Frau, die nackt und randalierend in ihrer Wohnung aufgegriffen wurde, weil sie Passanten mit Gegenständen beworfen hatte. Sie verzichtete ostentativ auf eine wärmende Decke und begeisterte die Zuschauer mit einer ebenso textilfreien wie tragikomischen Show-Einlage vor laufender Kamera.

Wer angesichts eines so überbordenden Zynismus um die russische Seele bangt, sei getröstet: Die besten Einschaltquoten trotz mehrfacher Wiederholung erlangte eine Folge, in der ein kleines Mädchen seinen blonden Schopf zu weit in einen Kochtopf steckte und sich nicht mehr daraus befreien konnte. Nachdem Mutter und Kind bereits kurz vor dem Nervenzusammenbruch standen, eilte der Rettungsdienst herbei und löste das Problem in bester Hausfrauen-Manier: Ein Helfer goss Sonnenblumenöl in den Topf und befreite das kreischende Kleinkind von seiner Last. Happy End auf russisch.

 

Splatter-Show nach amerikanischem Vorbild

Dass die Idee zu dem Reality-TV-Spektakel nicht in Russland geboren wurde, verwundert nicht: Des Zuschauers Faszination an grausamen Bildern entzückte zunächst die Fernsehproduzenten in den Vereinigten Staaten: Von 1989 bis 1992 präsentierte Ex-Captain-Kirk-Darsteller William Shatner hier die CBS-Reality-Show „Rescue 911“. In Anlehnung an diese in den USA und weiteren 45 Ländern mit riesigem Erfolg gelaufenen Dokumentationen über den blutigen Alltag amerikanischer Rettungsleute, beschloss man auch im ehemaligen „Reich des Bösen“, eine Splatter-Show der russischen Art zu inszenieren.

Die Besonderheit: Moskau schickt eigene Teams auf die Straße, die häufig früher am Unfallort ankommen als die herkömmlichen Rettungswagen. Weil dabei auch die lebenserhaltende Erstversorgung von Unfallopfern anfällt, sind die Anforderungen an die Helfer groß: Jede Einsatzgruppe besteht aus einem Rettungsarzt mit mindestens fünf Jahren Berufserfahrung und professionellen Helfern, die in einer zweimonatigen Ausbildung mit Abschlussprüfung und nachfolgendem Praktikum für den nervenaufreibenden Job fit gemacht werden. Ausbildungsinhalte sind Bergsteigen, Unterwassertraining, Kampfausbildung, Feuerbekämpfung, der Umgang mit der Rettungsausrüstung und natürlich eine medizinische Grundausbildung.
Interessierte das Fernsehpublikum zunächst die ungeschminkte Darstellung schrecklicher Ereignisse, wittert Reality-Expertin Budrina jetzt ein verändertes Zuschauerverhalten: „Die Leute gucken nicht nur und zittern vor Schreck, sondern sie verstehen inzwischen, dass man die eigenen Kinder auch davor schützen muss, in gefährliche Situationen zu geraten. Deshalb versuchen wir, von den nackten Fakten abzugehen und eher die sozialen Aspekte zu betonen, um dahinterliegende Prozesse zu verdeutlichen. Drogensucht oder die Einsamkeit alter Menschen sind gesellschaftliche Probleme, die es überall auf der Welt gibt.“
Wie wahr. Auch die Sucht nach wohligen Schauern und blankem Entsetzen angesichts blutiger Verbrechen oder Unfälle ist keineswegs ein spezifisch russisches Phänomen. In einem Land, in dem Kaufhäuser und Bürgersteige sich pünktlich zu Beginn der Daily Soaps auf gespenstische Art und Weise entvölkern und die wenigsten Haushalte noch Geld für Bücher oder Zeitungsabonnements übrig haben, wird die Flimmerkiste allerdings für viele zur letzten Unterhaltungs- und Informationsquelle. Beste Voraussetzungen für die Regierung Putin, die mit ihrer unermüdlich vorangetriebenen staatlichen Einflussnahme auf die Medien den Boden bereitet für einen Siegeszug garantiert politik- und meinungsfreier Fernsehproduktionen.

Textautorin: Annette Langer – www.spiegel.de

 

 

Und hier nun die eigentliche Reportage. Das deutsche Fernsehen hat hier stellenweise eingegriffen und Dinge zensiert, die in Russland unzensiert ausgestrahlt werden.

Für Menschen mit schwachen Nerven empfehle ich, diese Reportage lieber nicht anzusehen!


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Autor
Gründer, Administrator, Hausmeister und ‚Motor‘ des Blogs. Beiträge von ihm sind in allen Kategorien zu finden. Beruflich ist er als Notfallsanitäter, sowie als Dozent und Einsatzleiter bei einer großen Hilfsorganisation in Süddeutschland tätig. Dank diverser Zusatzqualifikationen und stetigen Fort- und Weiterbildungen, sowie unzähligen Kontakten im In- und Ausland, ist er immer up-to-date und wird von Bekannten und Kollegen häufig als Ansprechpartner für alle möglichen Themen rund um den Rettungsdienst konsultiert. Er ist auf diversen Internetplattformen, sowie Messen und anderen Veranstaltungen zu den Themen Rettungsdienst und Notfallmedizin präsent und dauernd auf der Suche nach neuen und interessanten Themen für den Blog.