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Bereits seit mehreren Jahren litt Janine unter ständigen Kopf- und Nackenschmerzen. Seit knapp 10 Jahren war sie deswegen auch bei ihrem Hausarzt in Behandlung. Dieser brachte die Schmerzen seither immer mit ihrem Beruf als Erzieherin in Verbindung. Insbesondere die Tatsache, dass sie in ihrem beruflichen Alltag viel auf Stühlen, die für Kleinkinder gemacht sind, sitzt, würde muskuläre Verspannungen im Nackenbereich auslösen.

Eines Abends beschloss Janine, mit ihrem Freund zu ihrem Lieblingsitaliener zum Essen zu gehen. Es sollte ein entspannter Abend zu zweit werden, als auf dem Weg schlagartig heftige Kopfschmerzen einsetzten. Da Janine auch über leichte Benommenheit klagte, beschloss ihr Freund, den Tisch beim Italiener abzubestellen und direkt zur Praxis des Hausarztes zu fahren. Zwar war ihm bewusst, dass die Praxis bereits geschlossen war, aber es musste etwas unternommen werden.

Gerade noch rechtzeitig erreichten die beiden die Praxis, der Chef war gerade dabei die Türe abzuschließen. Freundlicherweise bat er die beiden dennoch herein, untersuchte Janine’s Vitalwerte und bot ihr an, sich eine Weile auf die Liege zu legen.

Nach kurzer Zeit brachte das Liegen auch den gewünschten Erfolg und die Schmerzen wurden leichter. Der Doktor verschrieb Janine für die Nacht noch einige starke Schmerzmittel und trug ihr gleich am nächsten Morgen einen Termin zur Kontrolle ein, bevor er die beiden wieder entließ.

Wie der Arzt geraten hatte, gingen die beiden nicht mehr zum Essen, sondern fuhren direkt nach Hause. Janine nahm noch ihre Tabletten ein und ging anschließend frühzeitig zu Bett.

Der Termin am nächsten Morgen ging ohne größere Probleme von Statten. Erneut bekam Janine Kopfschmerztabletten und ein Medikament zur Lockerung der Muskulatur verschrieben. Laut Aussage des Arztes seien auch diese Beschwerden wieder mit den Verspannungen im Nacken in Verbindung zu bringen.

Janine nahm brav ihre Tabletten ein, verbrachte den Rest des Tages zuhause. Leider nahmen die Kopfschmerzen trotz der Medikation stetig zu. Als Janine’s Bruder am Abend zu Besuch kam, waren die Kopfschmerzen bereits wieder deutlich schlimmer, sie hatte zudem Probleme, ihren Kopf nach rechts und links zu drehen. Walter, der Bruder, hatte sich vor mehreren Jahren einmal einen Nerv im Nacken eingeklemmt. Damals litt er unter ähnlichen Symptomen und so beschloss er, seine Schwester in eine orthopädische Klinik zu bringen um der Sache auf den Grund zu gehen.

Der diensthabende Orthopäde vermutete nach eingänglicher Untersuchung einen ’stillen Bandscheibenvorfall‘ im Bereich der Halswirbelsäule. Da er sich ohne MRT-Untersuchung jedoch darauf nicht festlegen wollte, bot er Janine an, sie stationär aufzunehmen und ein MRT zu veranlassen. Er begründete die stationäre Aufnahme damit, dass die Krankenkassen ambulante MRT-Untersuchungen in Kliniken nicht finanzieren würden.

Da Janine sich weigerte, stationär zu bleiben, verließ sie wenige Minuten später mit einer Überweisung für ein ambulantes MRT die Klinik. Ausserdem hatte sie erneut starke Schmerztabletten, sowie einen Magenschutz rezeptiert bekommen, die die Schmerzen für den Abend erträglich machten.

Gleich am nächsten Morgen telefonierte Janine mit sämtlichen radiologischen Praxen im Umkreis von 100 Kilometern um einen Termin für ihr ambulantes MRT zu bekommen. Leider bekam sie von allen Praxen die selbe Antwort: Erst in frühestens sechs Wochen seien noch Termine frei. Es kam wie es kommen musste und Janine’s Kopf- und Nackenschmerzen nahmen erneut zu. Erneut wurde Janine von ihrem Bruder zu einem Orthopäden gebracht. Dieser begann auch sofort mit einer chiropraktischen Behandlung der Halswirbelsäule. Er versprach sich davon eine Lockerung der sehr versteiften Nackenmuskulatur.

Nach etwa 60-minütiger Behandlung verbesserten sich Janine’s Symtome schlagartig. Glücklich darüber, endlich jemanden gefunden zu haben, der tatsächlich helfen kann, vereinbarte sie gleich einen zweiten Termin ein paar Tage später. Sie bekam ausserdem einige Übungen von dem behandelnden Orthopäden gezeigt, die sie zuhause in den folgenden Tagen auch regelmäßig durchführte.

Von diesem Tag an ging es täglich ein kleines Stückchen mehr bergauf mit Janine, ihr Zustand verbesserte sich zusehens.

Sowohl Janine, als auch ihre ganze Familie waren froh, dass es ihr endlich besser ging. Sie war größtenteils schmerzfrei, zwar traten immernoch regelmäßig Kopfschmerzen auf, jedoch immer in einem erträglichen Rahmen.

Alles verlief wunderbar, bis wenige Tage später plötzlich wieder extrem heftige Kopfschmerzen, Benommenheit und starke Übelkeit bei Janine einsetzten. Die Familie informierte sofort den Hausarzt, dieser riet jedoch nun dazu, umgehend in’s Krankenhaus zu fahren, womit Janine allerdings ganz und gar nicht einverstanden war. Sie weigerte sich wehement dagegen, sich im Krankenhaus vorzustellen. Sie habe nun genug von Ärzten, es könne ihr sowieso keiner helfen und die Schmerzen würden bestimmt gleich wieder nachlassen, argumentierte sie.

Gottseidank ließen sich die Angehörigen nicht davon abbringen, dass Janine im Krankenhaus untersucht werden müsse und so kam der Rettungsdienst in’s Spiel: Ohne, dass Janine davon wusste, hatte die Mutter bei der Rettungsleitstelle angerufen und so wurde ein RTW zum Notfalleinsatz entsandt, der kurze Zeit später bei Janine eintraf.

Die Kollegen ließen sich Janine’s Krankheitsverlauf schildern, Arztbriefe und Medikationen zeigen. Ausserdem machten sie sich ein Bild von ihrem momentanen Zustand. Es dauerte eine kurze Weile, aber nach kurzer Überzeugungsarbeit erklärte sich Janine bereit, die Rettungsassistenten in’s Krankenhaus zu begleiten. Im Fahrzeug wurden noch die Vitalwerte überprüft, Blut abgehnommen und eine Infusion angelegt, dann erfolgte der Transport zur nächstgelegenen Klinik der Maximalversorgung.

Dort eingetroffen klagte Janine immer noch über Kopfschmerzen und zunehmende Übelkeit. Mittlerweile war ihr Gesicht kreidebleich, so dass der aufnehmende Arzt sofort Schmerzen und Übelkeit medikamentös behandelte. Die Untersuchung des Blutes hatte erhöhte Entzündungswerte ergeben, so dass im ersten Moment von einer Hirnhautentzündung ausgegangen wurde. Für Gewissheit sollten nun also ein Schädel-CT und eine anschließende Lumbalpunktion sorgen.

Nach dem CT wurde Janine schnellen Schrittes in den Schockraum gebracht, wo der behandelnde Arzt bereits auf sie wartete. Wenige Augenblickte später betraten auch eine Anästhesistin, eine Neurologin, sowie ein Neurochirurg das Zimmer.

Die Lumbalpunktion sei nicht mehr notwendig, begann der Arzt, Janine aufzuklären. Man habe in ihrem Kopf ein Aneurysma entdeckt, welches nun zu einer Hirnblutung geführt habe. Die Diagnose mache einen sofortigen operativen Eingriff notwendig bei dem man versuchen würde, einen Stent zu implantieren.

Janine sagte von diesem Zeitpunkt an nicht mehr viel, stimmte zu und bat ihre Familie nach Hause zu fahren und sich keine Sorgen zu machen, bevor sie in Narkose gelegt und für die OP vorbereitet wurde…

Nach etwa vier Stunden erhielten die Angehörigen einen Anruf, dass die Stentimplantation leider nicht erfolgreich war und Janine soeben ein weiteres Mal in den OP geschoben würde.

Weitere fünf Stunden später konnte dann Entwarnung gegeben werden, man hatte das Aneurysma mittels ‚Clamp and repair“ beseitigen können und alles sei soweit problemlos verlaufen. Sie würde nun auf die neurologische Intensivstation verlegt.

[…]

Da Janine in den darauffolgenden Tagen immer wieder Symptome von kleineren Schlaganfällen gezeigt hatte, wurde sie nochmals operiert. Es wurden Gefäße der rechten Hirnhälfte erweitert und zwei Sonden im Kopf platziert, die den Hirninnendruck und den Sauerstoffdruck messen.

Seit dieser Operation liegt Janine nun bereits den zweiten Tag im künstlichen Koma, ihr Zustand sei soweit ’stabil‘, wenn auch weiterhin kritisch…

 

Warum ich diesen Bericht poste?

Ich wurde vor einiger Zeit von einem Angehörigen der Patientin, um die es im Bericht geht, angeschrieben. Er bat mich, doch einmal auf die Risiken von Aneurysmen hinzuweisen. Er schrieb mir auch den detaillierten Krankheitsverlauf seiner Angehörigen. Zwar wollte ich keinen Artikel rein über Aneurysmen, ihre Entstehung und Komplikationen schreiben – denn dafür gibt es schließlich Fachliteratur – aber den Artikel an sich wollte ich eben doch posten. In Janine’s Fall zeigt sich, dass das Aneurysma in ihrem Kopf wohl schon seit 10 Tagen eingeblutet, der lange Krankheitsverlauf die meisten Ärzte jedoch auf die falsche Fährte gelockt hatte. Somit wurde das CT erst viel zu spät angeordnet, der Ernst der Lage nicht erkannt und genau das hätte im schlimmsten Fall sogar ihren Tod bedeuten können.

Ich möchte euch, also insbesondere die Mitarbeiter im Rettungsdienst, auf diesem Wege noch einmal daran erinnern, dass auch Patienten, die seit langen Jahren die gleichen Beschwerden haben, von Zeit zu Zeit noch einmal neu begutachtet werden sollten. Insbesondere dann, wenn ein solcher Patient, obwohl er die gleichen Symptome seit Jahren hat, nun bei uns anruft. Dies bedeutet doch bei genauerer Betrachtung, dass sich wohl irgend etwas verändert hat, etwas schlimmer ist als sonst.

Natürlich will niemand gleich aus einer ‚Mücke einen Elefanten machen‘, doch das Beispiel von Janine zeigt sehr deutlich, dass bereits gestellte Diagnosen die Anamneseerhebung massiv beeinflussen können. Wenn man sich nun darauf versteift, kann eben im schlimmsten Fall genau so etwas passieren und zusätzliche Erkrankungen werden überhaupt nicht, oder erst viel zu spät erkannt.

Sicherlich kennt jeder von uns die Situation, in der man sich sicher ist, die richtige Verdachtsdiagnose gestellt zu haben und im Nachhinein stellt sich doch etwas ganz anderes heraus…!?

Alles, auf was ich mit diesem Artikel hinweisen möchte ist, wie man so schön sagt: THINK OUTSIDE THE BOX!

Ich wünsche ‚Janine‘ alles Gute und hoffe, dass sie schnell wieder auf die Beine kommt. Auch den Angehörigen möchte ich auf diesem Weg alles Gute und viel Kraft wünschen, denn ein derart langer Krankheitsverlauf mit unzähligen Arztbesuchen ist auch für Freunde und Familie durchaus sehr belastend.

Ausserdem möchte ich mich bei allen beteiligten Personen bedanken, die zugestimmt haben, dass dieser Artikel aus dem ‚wahren Leben‘ hier – natürlich abgeändert und verfremdet – gepostet werden darf und hoffentlich den ein oder anderen zum Nachdenken anregt…


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